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Me and myself
 
Sonntag, 23. Juni 2002
1-5

Verdammt, ja, ich habe dir zugehört. Immer und immer wieder mich dir ergeben, deinem endlosen Schwall. Wir redeten in unserer Situation, du sprachst, aktiv, ich passiv, als Zuhörer. Wieder und wieder die alten Dinge aufgebrochen, aus den Kisten geholt, die sorgsam verschlossen waren, sie wieder ans Tageslicht befördert, obwohl sie im Vergessen begraben sein sollten. Ich kann mich nicht mehr darauf erlassen. Es ist etwas gestorben, in mir, zwischen uns, vielleicht lebt es noch in dir, vielleicht wirst du es eines Tages töten, können oder müssen. Der Gedanke, du trägst ihn in dir, wie ein heranwachsendes Kind im Mutterleib, er ist zum Sterben verdammt. Merkst du nicht, die Worte, sie prallen aufeinander, ineinander, voneinander ab. Möchte den Gedanken aus dir zerren, ihm ins Gesicht sehen. Einmal diese Hirnfratze sehen. Verdammt, ja, ich höre dir noch immer zu. In meinen Gedanken. Die auch sterben werden, müssen und dürfen.

Mutter erzählte uns dann irgendwelche Geschichten, vor denen wir uns fürchteten. In die Federdecken gekuschelt lagen wir da und weinten. Wieso sie das machte, frage ich mich heute noch oft. Sie mochte uns von Anfang an nicht leiden. Zwillinge, doppelte Belastung, doppelte Scham. Wer der Vater war, verschwieg sie im Dorf, später auch uns, wir waren schon erwachsen, fragten, doch sie antwortete nicht. Mutter starb an meinem einundvierzigsten Geburtstag, freiwillig. Seither schaue ich nicht mehr in die Vergangenheit, die mir heute noch Angst bereitet.

wir hatten als tiere versagt, meinten sie voller verachtung zu mir. nun hatten wir die prüfung als menschen zu bestehen, doch auch hier sah man schon gravierende mängel. alles fein säuberlich aufgelistet in den protokollen, welche sie von uns anfertigten. die andersmenschen schauten uns nur voller verachtung an, wir würden niemals imstande sein, solche großartigen leistungen zu vollbringen, wie sie es seit jeher schon immer getan hatten. wir waren zu grundverschieden. eine andere welt, mitten in der unseren. zweil klassen, zwei rassen, eine menschheit. die da oben und wir hier unten. und doch zusammen gefangen. wer mochte wohl noch über uns stehen?

wehgetan wurde mir, von dir, von anderen. für sie, für dich, war ich eine ewigkeit, einen moment, einfach nicht mehr da. von der bildfläche verschwunden, in gedanken wohl noch genug von mir vorrätig, um sich nicht neu bedienen zu müssen. es kam plötzlich, nicht über nacht, nicht nach der spanne eines tages, es kam überraschend, es kam plötzlich. vielleicht war es ja nicht einmal gekommen, vielleicht war es einfach da. schon immer unter uns, zwischen uns, hatte sich unbemerkt eingenistet. möglicherweise schlummerte es, ganz unschuldig im verborgenen, auf einen zeitpunkt wartend, da es wieder erwachsen konnte, zu ursprünglich vielleicht schon einmal mächtiger größe, ungeheuer bedrohlich. musste das versteckt haben, denn es schlich in unsere herzen, unbemerkt, wie ein dieb in der nacht, auf beutefang. wie ein raubvogel kreiste es in uns, auf den augenblick wartend, um aus der sicheren entfernung, ohne jegliche bedrohung, die man hätte erkennen können., zuzuschlagen. und wir waren machtlos, mussten uns vollkommen ergeben und erliegen. es hat seinen sieg stolz davon getragen.

und dann floss blut von überall her. durch die straßen, aus ihren mündern, den frauen strömte es aus dem unterleib, den männern platzten die augen und das rot ergoss sich. eben geborene kinder rissen sich von der nabelschnur los und stellten sich weltweit auf plätzen zu viererreihen auf. im fernsehen wurden alte werbespots gesendet, an die sich die lebenden nicht mehr entsinnen konnten. überall war blut. in den opferstöcken der kirchen wanden sich die würmer umeinander, in den ämtern erwachten leichen in den aktenschränken zu neuem leben. es war krieg. aus den gerichtsmedizininstituten kamen die toten in unsere mitte. wir wurden schlagartig alt. und dann floss von überall blut her. es war krieg.

 
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